Gründer der Gemeinschaft Sant'Egidio, Andrea Riccardi: Zurückhaltung von Dokumenten fördert "Sensationalismus" und führt zu verzerrten Bildern der Epoche
Rom, 29.11.00 (KAP) Für eine vollständige Öffnung der Vatikan-Archive aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs hat sich nun auch der renommierte katholische Historiker Prof. Andrea Riccardi ausgesprochen. Um die Persönlichkeit Pius XII. und sein Handeln besser zu verstehen, brauche es eine "neue Phase der Forschung" auf der Grundlage einer neuen Dokumentation, schrieb Riccardi in einem Aufsatz für die jüngste Ausgabe der Zeitschrift "MicroMega". Die Forderung nach Öffnung dieser Archive war bisher vor allem aus jüdischen Kreisen erhoben worden.
Riccardi ist Gründer der internationalen Gemeinschaft Sant'Egidio und Geschichts-Professor an der Universität Rom III. Er tritt häufig bei Veranstaltungen im Vatikan auf und steht im engen Kontakt zu Papst Johannes Paul II. In dem Aufsatz kritisiert er die Einsetzung der gemischten jüdisch-katholischen Historiker-Kommission zu diesem Thema, die vor einem Monat in Rom einen vorläufigen Bericht veröffentlicht hatte. Er argumentiert, dass die komplexen Probleme um Pius XII. und den Holocaust nicht mit einer Art "Historiker-Diplomatie" gelöst werden könnten. In einer "gemischten Kommission" müssten beide "Delegationen" den Forderungen ihrer jeweiligen Seite entsprechen, dies sei der Objektivität der Forschung abträglich. Dieser Ansatz fördere den Sensationalismus in einer Angelegenheit, die mehr Forschung erfordere.
Öffnung im Interesse der Kirche
Laut Riccardi liege es nicht nur im Interesse der Historiker, sondern auch der Kirche als Institution, die vatikanischen Archive zu öffnen. Das Zurückhalten von Dokumenten begünstige die Überbewertung der wenigen Akten, die dann doch an die Öffentlichkeit gelangten. Der Historiker mahnte, die Kirche solle nicht die Chance verpassen, die sich durch die aktuelle Debatte biete. Er erinnerte an die Erforschung des Modernismusstreits in den sechziger Jahren. Damals habe die historische Forschung die wichtigsten Dokumente aus dem Vatikan nicht einsehen können und sei daher zu einem verzerrten Bild über diese Epoche gelangt.
Mit der gänzlichen Öffnung des "reichhaltigen Materials des Heiligen Stuhls", so Riccardi weiter, könne der Vatikan eine neue Epoche der Forschung über den Zweiten Weltkrieg einläuten. Die heutigen Interpretationen der damaligen Zeit würden unter dem Eindruck dieses Materials sicherlich modifiziert werden müssen.
Kathpress
29. november 2000